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Title
Das Kollektiv. Formen und Vorstellungen gemeinschaftlicher Architekturproduktion in der DDR


Editor(s)
Brünenberg, Stefanie; Engler, Harald; Fordtran, Dirk Florian; Herold, Stephanie; Stackmann, Sophie; Wilks, Scarlett
Published
Berlin 2022: Urbanophil
Extent
350 S.
Price
€ 36,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Simone M. Bogner, Fachbereich Stadt Bau Kultur, Fachhochschule Potsdam

„Kollektive in der DDR waren anders“ (S. 297) – so resümieren es Stephanie Herold, Harald Engler, Stephanie Brünenberg, Sophie Stackmann, Scarlett Wilks und Dirk Florian Fordtran im vorliegenden Projektband. Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert: in einen theoretisch orientierten und in einen Fallstudienteil. Daran angeschlossen findet sich ein bebilderter Katalog zu den behandelten Bauten, die einen Querschnitt von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre zeigen. Mit den gewählten Fallbeispielen konzentrieren sich die Forscher:innen neben „Leuchtturmprojekten“ wie dem Rostocker Fünfgiebelhaus oder dem Neubrandenburger Haus der Kultur und Bildung größtenteils auf eher weniger prominente Bauprojekte wie Jena-Nord, die Scharnweber Straße in Frankfurt an der Oder und das Pumpspeicherwerk Hohe Warte, um nur einige zu nennen. Doch auch im ersten Teil gewinnen die Autor:innen ihre Ergebnisse stets aus der Empirie und bewegen sich in ihren dichten Beschreibungen und Analysen immer nah an ihren Objekten.

Das schön gestaltete Buch (2023 auf der Shortlist des DAM Book Awards) versammelt die Ergebnisse des DFG-Projekts „Architektur- und Planungskollektive der DDR – Institutionelle Strukturen und kreative Prozesse in der sozialistischen Architekturproduktion“, das von 2019 bis 2022 am Kompetenzzentrum Denkmalwissenschaften und Denkmaltechnologien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und am Leibniz-Institut für raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner angesiedelt war.

Doch wie genau sah die im Fazit von den Autor:innen festgestellte Andersartigkeit von DDR-Kollektiven aus? Und im Vergleich zu wem oder was? Bekanntermaßen war die Realität in den Architekturbüros im Westen ebenfalls von Zusammenarbeit geprägt – schon im Bauhaus wurde sie durch dessen Begründer Walter Gropius hochgehalten, nach seiner Emigration in die USA überführte er sie in das dort geprägte Ideal des „Teamwork“.1 In den 1970er-Jahren hatten Kollektive dann Hochkonjunktur und auch gegenwärtig erfahren sie neuen Auftrieb, da sie mehr Selbstbestimmung versprechen, etwa durch die Befreiung von rigiden Hierarchien und ein potentiell höheres Maß an (aus-)gelebter Kreativität.

In der DDR waren Kollektive jedoch so gut wie alternativlos. Die Kollektivierung war als Staatsdoktrin fest verankert, sie war eingehegt durch ein ideologisches Konstrukt, das alle gesellschaftlichen Ebenen erfasste und auch gewaltvoll erzwungen wurde. Im Bauwesen fand dementsprechend parallel die Marginalisierung freier Architekturbüros statt, die als „bourgeoise“ Überbleibsel stigmatisiert und weitgehend aus dem System gedrängt wurden (S. 60–64). Ziel war es bekanntlich, mit möglichst wenigen Produktionsmitteln in einer kollektiven Anstrengung Wohnungen für alle Bürger:innen der DDR zu errichten. Die individualistische Kreativität, wie sie im Westen als vorherrschend und im Mythos der genialen Künstlerpersönlichkeit verankert galt, betrachtete man bei diesem Vorhaben als hinderlich – ihr sollte ein sozialistisches Kreativitätsverständnis gegenübergestellt werden (S. 118f.).

Dass die Interpretationen des Kreativitätsbegriffs in Ost und West zwar verschieden begründet, jedoch in ihrem Ziel der Produktivitätssteigerung keineswegs so unterschiedlich waren, zeigt das ambitionierte Forschungsprojekt auf und stellt zahlreiche Fragen an den Themenkomplex: Hatte das Kollektiv als Arbeitsform Auswirkungen auf die Architekturproduktion in der DDR, gar auf die Objekte selbst (S. 8)? Gab es eine „Handschrift“ von Kollektiven? Oder blieb diese den Kollektivleitenden vorbehalten? Und wie lässt sich kollektive Arbeit untersuchen?

Die tatsächliche Zusammenarbeit im Kollektiv wird normalerweise erst dann relevant, wenn es um Ansprüche auf Autorschaft geht. Interessant ist, dass es schon in der DDR zu Urheberrechtsstreitigkeiten kam (S. 276ff.). Zumeist entzündeten sich diese Konflikte jedoch erst im Kontext von Abrissen und denkmalpflegerischen Belangen in der Nachwendezeit. In der Forschung spiegeln sich allerdings selten die im Grunde sehr diversen Arbeitsalltags- und auch Post-Wende-Erfahrungen hierarchisch weiter unten stehender Akteur:innen wider2 – es überwiegen die biografisch angelegten Monographien zumeist männlicher Architekten.3

Im Band wird daher „zum ersten Mal eine systematische und aus den Quellen erarbeitete Analyse des Phänomens Architekturkollektiv in der DDR vorgenommen“ (S. 8). Da die Ergebnisse der 2021 veranstalteten Tagung4 zu Kollektiven im 20. Jahrhundert in einem international angelegten Kontext für einen zweiten Band angekündigt sind, fokussierten die Autor:innen im vorliegenden Band weniger auf Alterität, sondern auf DDR-Kollektive als historisches Phänomen. Dabei stellten sie fest, dass im Grunde keine praktischen Handlungsanweisungen existierten, wie genau Kollektive in der DDR geformt zu werden und wie sie zu arbeiten hatten (S. 64f.). Darüber hinaus sahen sich die Forschenden mit einem bisher – im Hinblick auf die Thematik – vorwiegend unbearbeiteten Archivalienkorpus konfrontiert, weshalb ein multi- und interdisziplinärer Ansatz mit einer korrespondierenden „Methodenpluralität“ (S. 14) gewählt wurde: mit Hintergründen der Forschenden in Zeit-, Architektur- und Kunstgeschichte wird „das Kollektiv“ unter Auswertung von schriftlichen Quellen, Bildmaterial und Gesprächen aus einer akteursbezogenen, planungsgeschichtlichen sowie genderspezifischen Perspektive beleuchtet.

Nach einem kulturgeschichtlichen Abriss über kollektive Zusammenarbeit im 20. Jahrhundert (Brünenberg/Herold), werden die Institutionen und Gesetze erörtert (Engler/Brünenberg), dann die Organisationsprinzipien und Netzwerke der unterschiedlichen Akteur:innen in und zwischen den im Bauwesen zuständigen „Volkseigenen Betrieben“ (Brünenberg), zu denen auch die hier besonders im Fokus stehenden Wohnungsbaukombinate zählten. Da die Institutionengeschichte der DDR aufgrund der vielen beteiligten Akteur:innen und durchaus langen Namen und Akronyme der jeweiligen Institutionen bisweilen schwer zu durchschauen ist, darf die detaillierte Aufschlüsselung für weiterführende Forschungen Geltung als Nachschlagewerk beanspruchen. Die Untersuchung des Kreativitätsbegriffs im architekturtheoretischen Diskurs (Stackmann) fördert weitere interessante Erkenntnisse zutage, etwa die Bedeutung der sozialistischen Kreativitätsforschungen der Pädagog:innen Gerlinde und Hans-Georg Mehlhorn. Nach einer Analyse der fotografischen Inszenierung von Kollektiven in der DDR (Wilks) folgt schließlich eine Verhältnisbestimmung von „Autor, Werk und Rezeption“ (Herold) in der Architektur der DDR.

Sodann werden die zuvor erörterten Konzepte und Themen an weiteren Fallbeispielen exemplarisch diskutiert, was zu vertieften Einblicken in die Arbeit an Projekten wie etwa der Staatsoper Berlin, dem Stadtzentrum Suhl oder dem Bowlingtreff in Leipzig führt. Besonders hervorzuheben ist hier die Analyse von Rollenbildern und Selbstverständnissen von Architektinnen am Beispiel Iris Dullin-Grunds und Sabine Rohleders (Stackmann), die aufzeigt, dass Frauen nicht nur selten als Kollektivleiterinnen auftraten, sondern darüber hinaus gendernormativ dargestellt wurden (S. 244f.).

In diesem Teil des Bandes scheinen jedoch auch ein paar wenige Widersprüche auf. Da der konventionelle Kreativitätsbegriff zunächst aufgeweitet wird – Kreativität innerhalb des bürokratischen Apparats wird eher weit gefasst als Problemlösungskompetenz verstanden (S. 177) –, ist es etwas zu bedauern, dass die Rationalisierung im Bauwesen der DDR nicht selbst als ein kreativer Akt untersucht wurde. So liest man etwa später, dass sich in einem von „Kennziffern“ und „Wohnungsschlüsseln“ geprägten „typisierten Bauen“ in der DDR eigentlich nur in besonderen Projekten Ausnahmen von „Monotonie“ und „Redundanz“ im Arbeitsalltag finden ließen (S. 199). Und wenn auch die aus den Archiven gewonnenen Fotografien und Pläne einen großen Mehrwert darstellen, so wünscht man sich beim Lesen manchmal noch etwas substanzieller vom Arbeitsalltag in den Kollektiven zu erfahren – die Ergebnisse der Oral History hätten hier gerne noch etwas ausführlicher einfließen dürfen.

Zu beachten bleibt freilich, dass sich die eingangs gestellte Frage, wie sich organisationale Formierungen, Arbeitsprozesse und Potenziale von Kreativität in Kollektiven rekonstruieren und einordnen lassen, gar nicht so einfach beantworten lässt. Denn was im Bereich der „organisational studies“ als „tacit knowledge“ bekannt ist5, lässt sich bereits im Prozess selbst schwer explizieren – noch schwieriger gestaltet sich dies im Rückblick.

Zusammenfassend kommen die Autor:innen zu dem Schluss, dass die Arbeitsprozesse in DDR-Kollektiven immer abhängig vom jeweiligen Bauprojekt, von den personellen Konstellationen sowie den sich daraus ergebenden – oft selbst geschaffenen – Handlungsspielräumen waren. Gerade letztere wurden mitunter auch „von oben“ sanktioniert. Denn in diese Gemengelage hinein agierten fast immer auch die zentralistischen Organe, wie etwa das ZK der SED, welche die Kontrolle über bestimmte Projekte behalten wollten – insbesondere über diejenigen, die Strahlkraft über die jeweiligen Bezirke hinaus versprachen.

Im Hinblick auf das behauptete Anderssein der Kollektive in der DDR wäre es bereichernd gewesen, die verdrängte private Architekturproduktion in der DDR nicht nur zu streifen – wenngleich diese Restriktion für den hier gesteckten Rahmen sicher erforderlich war. Man darf in jedem Fall auf den angekündigten zweiten Band dieses hochinteressanten Forschungsprojekts gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Sigfried Giedion, Walter Gropius. Work and Teamwork, New York 1954.
2 Vgl. Frederike Lausch, Architektenausbildung in Weimar. 29 Lebensläufe zwischen DDR und BRD, Weimar 2015.
3 Vgl. Wolf Rüdiger Eisentraut, „Zweifach war des Bauens Lust“. Architektur Leben Gesellschaft, Berlin 2023.
4 Vgl. „Die große Kraft des Kollektivs!“ Kollaboratives Arbeiten in der Architektur vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart., in: H-Soz-Kult, 08.07.2021, https://www.hsozkult.de/event/id/event-98779 (21.02.2024).
5 Silvia Gherardi, Organizational Knowledge. The Texture of Workplace Learning, Oxford 2006.

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